Aus zweieiig mach eineiig
Fälschlicherweise als Zwillinge aufgewachsen: Jorge und Carlos / William und Wilber
(Foto: Stefan Ruiz)
Was ist hier geschehen?
Hierzu müssen wir weitere 26 Jahre zurückgehen. Am 21. Dezember 1988 wurden Jorge und William als eineiige Zwillinge in einem Krankenhaus in Bogotá entbunden. Ein Tag später wurde Carlos ohne seinen eineiigen Zwilling Wilber, wegen eines medizinischen Notfalls in dasselbe Krankenhaus eingeliefert, da dort die bessere medizinische Versorgung zur Verfügung stand. Während des Aufenthalts kam es wahrscheinlich durch eine*n unachtsame*n Krankenpfleger*in zu einer Verwechslung: Carlos wurde mit William vertauscht, sodass sie getrennt von ihren biologischen Eltern aufwuchsen. Folglich entstanden zwei getrennt voneinander aufwachsende Zwillingspaare und zugleich zwei vermeintliche Zwillingspaare, die biologisch überhaupt nicht verwandt waren, aber in dem Glauben aufwuchsen, Zwillinge zu sein. Seitdem leben die eineiigen Zwillinge in dem Glauben zweieiige Brüder zu sein ca. 200 Kilometer entfernt voneinander und wachsen in unterschiedlichen sozialen Verhältnissen auf: Privilegiert in der Hauptstadt und ohne Strom auf dem Land.
Wer oder was sind wir? Welche Möglichkeiten bietet uns das Leben?
Laut Psychologin und Zwillingsforscherin Nancy Segal seien die eineiigen, aber getrennt aufgewachsenen Zwillinge William und Jorge beide optimistisch, offen, gut gelaunt und religiöser als die anderen eineiigen Zwillinge Carlos und Wilber. William habe sich mit seinem vermeintlichen Zwillingsbruder Wilber nie sonderlich gut verstanden und er fühlte sich auch nie so, als wäre er wirklich Teil der Familie. Wilber und Carlos sind aufbrausender, ernsthafter, haben ein besseres Rhythmusgefühl und werden häufiger krank als die anderen beiden Brüder. Sie haben auch beide eine Tierphobie vor Schlangen und Mäusen.
Natürlich weisen die genetisch identischen eineiigen Zwillinge nicht exakt dieselben Eigenschaften auf. So schnitten William und Wilber, die weit entfernt von ihrer Schule in einem abgelegenen Dorf großgeworden sind, in einem IQ-Test verhältnismäßig schlechter ab als Jorge und Carlos, obwohl die Intelligenz zu einem großen Teil erblich bedingt ist. Hier zeigt sich ein Einfluss geteilter Umweltbedingungen. Die zwei Zwillingspaare, deren Lebenswelten sich durch eine zufällige Verwechslung verbunden haben, haben zueinander gefunden und bezeichnen sich heute bereits als die „4 Brüder“.
Die faszinierende Geschichte von Jorge, William, Carlos und Wilber verdeutlicht sehr gut, dass sich die Frage: „Sind wir das Ergebnis unserer Gene oder unserer Umwelt?“ nicht so einfach beantworten lässt. Beides trifft zu, aber das Zusammenspiel von Genen und Umwelt muss auch stets berücksichtigt werden. Außerdem unterscheiden sich die relativen Einflüsse dieser Faktoren je nach Merkmal (z.B. Körpergröße, Intelligenz, Persönlichkeit). Umso wichtiger ist die systematische Erforschung dieses Themengebiets nach aktuellen wissenschaftlichen Standards wie es TwinLife tut, um der Beantwortung dieser fundamentalen Frage ein bedeutsames Stück näher zu kommen.
Hier können Sie die ganzen Artikel nochmal nachlesen:
Umgebung oder Gene: Was macht uns zu denen, die wir sind? (faz.net)